Endre Ady: „Mein Lebenslauf“
„Zunächst wollte ich, strenger Logik folgend, meinen sogenannten Lebenslauf mit dem heutigen Tage beginnen und mit dem weiter nicht wichtigen Tag meiner Geburt beenden. In meinem Alter wird aber der Mensch etwas ängstlicher und verstößt nicht gerne gegen althergebrachte Konventionen, daher beginne ich, der Übereinkunft folgend, damit, dass ich geboren wurde.“
Das sind die einleitenden Worte Endre Adys zu seinem Lebenslauf, geschrieben September 1913.
Anstelle die Stationen seines Lebens aufzuzählen, möchte ich den Dichter seine Lebensgeschichte selbst erzählen lassen:
„Geboren bin ich am 22. November 1877 in Érdmindszent im Komitat Szilágy, in einem kleinen Dorf am Flüsschen Ér. Mein Vater, Lőrinc Ady, stammt aus Lompért. Er kam in unser Dorf, als er meine Mutter, die Tochter eines früh verstorbenen evangelischen Pastors […], heiratete.
Die Familie meiner Mutter ist eine alteingesessene protestantische Familie und meine Mutter eine aus Siebenbürgen stammende calvinistische Pastorentochter. Meine Großmutter väterlicherseits ist eine Visky-Tochter, mein Großvater, Dániel Ady, Grundbesitzer aus Lompért und Gutsverwalter der Wesselényi-Familie.
Die Familie Ady, obwohl auch das nicht von Bedeutung ist, ist eine der ältesten Familien im Landstrich Szilágyság, kommt aus Od, Ad, später Diósad, stammt aus dem weit verzweigten Geschlecht Gud-Keled. Sie verlor früh ihr Vermögen und ihre hochrangige Stellung und schon im 16. Jahrhundert gehörten nur noch wenige zu den wohlsituierten Adelsfamilien, die meisten hingegen fristeten ein den Leibeigenen ähnliches Leben.
Eine starke und stolze Tradition lebte aber trotz bescheidener Lebensverhältnisse auch in meiner Familie weiter. Mein Vater, der sich als einziger unter seinen Geschwistern nie mit dem Leben im Internat anfreunden konnte und daher regelmäßig ausgebrochen war, wollte seine Kinder unbedingt studieren lassen. Er glaubte fest daran, dass der Wiederaufstieg seiner Familie, wie sich das gehört, durch die Karriere seiner Söhne im Komitat zu erreichen sein würde.
So wurde ich 1888 in das Piaristengymnasium nach Nagykároly geschickt, wo ich mit Hilfe meiner verständnisvollen, gütigen Ordensväter, die ich immer in lieber Erinnerung behalten werde, die ersten vier Gymnasialstufen absolvierte.
Danach, vielleicht – und wenn so, dann grundlos – um mich vor einem stärkeren katholischen Einfluss zu bewahren, schickten mich meine Eltern auf die calvinistische Oberstufe in Zilah, ins heutige Wesselényi Kollegium.
Sowohl in Nagykároly als auch in Zilah war ich ein herausragender Schüler, obwohl Fleiß schon damals nicht gerade zu meinen besten Eigenschaften zählte. Mein Benehmen glich einer zähneknirschenden, manchmal wild werdenden Gutmütigkeit.
Später sollte ich in Debrecen Jura studieren, weil mir das nach Vorstellung meines Vaters die besten Aussichten zum Aufstieg zum Stuhlrichter oder Gespan oder was weiß ich zu was eröffnet hätte […].
Zum Journalismus kam ich durch meine stets sorgfältig gepflegte, aber verheimlichte Ambition zur Schriftstellerei und Dichtung. Schon mit sieben Jahren schrieb ich Gedichte […] und schon in der 5. Klasse des Zilaher Gymnasiums habe ich Gedichte vorgetragen, einige erschienen sogar in der örtlichen Tageszeitung.
Schließlich entkam ich meinem Halbjournalist-, Halbjurist- und ein wenig Dichter-Dasein in Debrecen und im Januar 1900 wurde ich Mitarbeiter in der Redaktion einer Tageszeitung in Nagyvárad. Da bereits, meiner Berufung folgend, als hauptberuflicher Journalist. Bald wurde ich Redakteur der Nagyvárader Tageszeitung. Ich habe viel geschrieben, aber kaum Gedichte, aus Trotz, weil eben Dichter zu sein doch nur eine verrückte, komische Sache ist.
Obwohl ich mit einer Portion Affektiertheit auf Budapest hinabschaute, machte mich das Provinzleben auch nicht zufrieden und so schmiedete ich phantastische Pläne: London oder vielleicht Petersburg, Moskau, aber nein, doch Paris. Dank schicksalhafter, seltsamer, aber nicht unangenehmer Umstände kam ich 1904 nach Paris, und so blieb mir zu meiner großen Zufriedenheit Budapest erspart.
In Paris gelang es mir, die Aufmerksamkeit des von József Vészi und Ede Kabos herausgegebenen Budapester Journals auf mich zu ziehen […] und als Pariser Korrespondent für diese Zeitung zu arbeiten. So kam es, dass ich die Bestätigung, ein beherzter Journalist zu sein, zuerst in Paris erhielt […].
Dann kehrte ich heim und schrieb für verschiedene Zeitungen; alles Mögliche: Politisches, Kritiken, Reportagen, Novellen und Gedichte.
Ich versuchte, intensiv zu leben, d.h. jenes genauer zu beobachten, das ich schon immer stark fühlte und mit Leidenschaft lebte.
Meine Schriften, insbesondere meine Gedichte, haben schlicht und einfach Empörung ausgelöst: Man nannte mich unpatriotisch, verrückt, unvernünftig, einen Komödianten und Landesverräter.
Mit einem Wort: Ich erreichte alles, was man in Ungarn als junger Poet nur erreichen konnte, bloß gestorben bin ich nicht.
Meine Gedichte und die Beschimpfungen bescherten mir aber auch kampfeslustige, treue Anhänger und die folgenden vier, fünf Jahre verbrachte ich mit fabelhaften Kämpfen und in fieberhafter Arbeit.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich als unverstandener Poet im Irrenhaus gelandet wäre, doch fühlte ich mich berufen und war vom Aberglauben beseelt, weiterschreiben zu müssen. Möglich aber auch, dass meine Entscheidung doch richtig war. Als ich nämlich das magische Alter von dreiunddreißig Jahren erreichte, ab dem man nicht mehr als junger Poet gilt, strömten mir plötzlich, entgegen der Regel, die ewig Heranwachsenden, die Jugendlichen und die noch Jüngeren zu. Jedes Jahr bescherte mir neue Anhänger, Schulkinder, Mädchen und Jungen, und schon deshalb lohnte es sich, über das Alter von dreiunddreißig Jahren hinaus trotz der gegebenen Umstände jung zu bleiben.
Ein produktives Genie kann man mich beim besten Willen nicht nennen, ich bin aber ein aktiver Dichter und Schriftsteller, ich schreibe Gedichte, Novellen, politische und sonstige Artikel, weil ich von meiner großen Liebe, dem Journalismus, nie lassen konnte. Heute bereise ich seltener die Orte meiner früheren Streifzüge, das Dreieck Wien-Paris-Rom, dafür muss ich aber öfter Sanatorien aufsuchen, um meine schwache Gesundheit zu flicken. Pläne aber habe ich noch. Ich plane, einen großen Roman zu schreiben, vielleicht ein Schauspiel, weiß aber nicht, ob diese Pläne nicht für immer nur Pläne bleiben werden. Ich werde bald sechsunddreißig Jahre alt, bin Junggeselle, seit neun Jahren schreibe ich jedes Jahr einen neuen Gedichtband, die meiste Zeit lebe ich in Budapest oder in meinem Geburtsort und selbstverständlich, obwohl das ein wenig traurig ist, habe ich kein richtiges Zuhause, keine eigene Wohnung.“
Diesem Lebenslauf sind nur noch wenige Ergänzungen hinzuzufügen; zunächst zwei schicksalhafte Ereignisse aus der Vergangenheit und außerdem die kommenden sechs Jahre bis zu seinem Tode im Jahr 1919.
Es ist immer eine Gewissensentscheidung, wie tief man in das Privatleben eines Künstlers eindringt, um seine künstlerische Leistung angemessen beurteilen zu können. In seinem Fall ist es meines Erachtens unumgänglich, zwei Ereignisse aus seinem Leben näher zu beleuchten. Diese Ereignisse seines stürmischen Privatlebens waren nämlich schicksalsbestimmend und beeinflussten entscheidend sein künstlerisches Schaffen.
Das eine Ereignis war „eine kleine, aber tiefgründige Geschichte, ein fatal aufgerührter Tropfen des Ozeans“, nämlich seine wahrscheinlich im Jahre 1903 zugezogene Syphiliserkrankung, die damals nicht heilbar war und die ihm daher schon mit sechsundzwanzig Jahren die Vision von einem frühen Tod Tag für Tag vor Augen führte. Dieser steten und spirituellen Auseinandersetzung mit Gott und dem nahenden Tod verdanken wir ergreifende Gedichte.
Das zweite Ereignis waren die „schicksalhaften, seltsamen, aber nicht unangenehmen Umstände“, die ihn 1904 nach Paris führten. Mit diesen lapidaren Worten umschreibt er in seinem Lebenslauf seine im Jahr 1903 entfachte, leidenschaftliche Liebe zu Adél Diosy Brüll, die er in Umkehrung ihres Vornamens Leda, eine Geliebte des Göttervaters Zeus, nannte und der er seinen ersten Gedichtband, Neue Verse, widmete.
Schicksalhaft, leidenschaftlich und ungewöhnlich war diese Beziehung. Leda war eine verheiratete Frau – was für damalige Begriffe skandalös war –, zudem war sie schön, reich, gebildet, empfindsam und eine Freidenkerin. Sie lebte die meiste Zeit in Paris und Ady reiste ihr einfach nach. Leda ermutigte ihn, Gedichte zu schreiben und machte ihn mit Werken von Baudelaire und Verlaine bekannt. Sie half dem eher noch provinziell geprägten, jungen Dichter in der Weltstadt Paris Fuß zu fassen und Beziehungen zu knüpfen.
Der Liebe zu Leda, der von Wechselgefühlen und Leidenschaft geprägten Beziehung, verdanken wir die außergewöhnlichsten Liebesgedichte der ungarischen Lyrik. Die Beziehung dauerte bis 1912 und endete mit dem hochmütigen, man kann auch sagen gehässigen Gedicht Schöner Abschiedsgruß, das dieser Beziehung ein unschönes Ende setzte.
Im selben Jahr wurde Ady auch Mitherausgeber von Nyugat (Der Westen), seine finanzielle Situation war damit geregelt.
Die folgenden Jahre wurden von zunehmenden gesundheitlichen Problemen überschattet. Er fühlte sich häufig krank und verbrachte immer mehr Zeit in Sanatorien. Beschleunigt wurde sein gesundheitlicher Verfall durch Alkohol- und Nikotinexzesse; seine Schaffenskraft ließ nach.
1914 erschien sein Gedichtband Wer hat mich gesehen (Ki látott engem) und dann weitere vier Jahre nichts. Erst 1918 folgte der Nächste, der zu seinen Lebzeiten auch der Letzte sein sollte, mit dem vielsagenden Titel Anführer der Toten (A halottak élén).
1915 heiratete er die zwanzig Jahre jüngere Berta Boncza, eine große Verehrerin seiner Dichtung, mit der er seit 1911 in Briefkontakt stand. Eine vergleichsweise ruhige Liebesbeziehung; seine Liebesgedichte an sie, die er Csinszka nannte, waren eher ruhig, sie hatten nicht mehr die Leidenschaft früherer Jahre.
Am 27. Januar 1919 starb Ady an einer Lungenentzündung.
Seine Beerdigung gestaltete sich zu einem nationalen Ereignis. Er wurde in der Vorhalle des Ungarischen Nationalmuseums in Budapest aufgebahrt.
Er hatte erreicht, was er immer erreichen wollte: Der „Dichter der Nation“ zu sein, und er wurde als „Toter der Nation“ unter großer Anteilnahme von Tausenden von Menschen zu Grabe getragen.
Blut und Gold
In meinen Ohren klingt es gleich,
Ob Lust stöhnt oder Folter grölt,
Blut fließt oder Gold klirrt.
Ich weiß. Ich bekenne: Dies ist alles.
Und alles andere bedeutungslos:
Nur Blut und Gold, nur Blut und Gold!
Alles stirbt, alles vergeht,
Der Ruhm, das Lied, der Rang, der Sold.
Ewig lebt nur: Blut und Gold.
Völker sterben und entstehen neu
Und heilig der Tapfere, der wie ich bekennt,
Ewig bekennt: Blut und Gold.
Der verirrte Reiter
Man hört den Hufschlag des verirrten,
Archaischen Reiters blinden Ritts,
An Ketten gelegte Geister vergangener Zeiten
Schrecken auf im verbliebenen Dickicht.
Hier und dort im verborgenen Gestrüpp
Erwachen sie jäh aus düsterem Schlaf,
Wie schaurige Geister im Märchen
Am neblig-dunklen Winternachmittag.
Das Dickicht, die Wildnis, breitet sich aus,
Überzieht erneut das befriedete Land,
Es regt sich wieder der dumpfe, alte Geist,
Der im Nebel versteckt scheintot schlummerte
Und nun wieder zum neuen Leben erwacht.
Gespenstisch ist bei uns der Herbst
Und immer weniger die Menschen:
Und im von Hügeln umgrenzten Tal
In Nebelglocken gehüllt wandert der November.
Nur Bluten, nur Geheimnis,
Nur Bedrückung, nur Ahnen,
Nur Wälder und Wildnis,
Nur alte Klugheiten.
Der frühzeitliche, verirrte Reisende
Setzt seine blinde Reise fort,
Zum Ziel führt aber kein Licht, kein Zeichen,
Verborgen bleibt der Ort.
Stumm schlafen die herbstlichen Dörfer,
Träumen frierend vom Vergangenen,
Und aus dem Nebel bricht hervor der Schrecken:
Jähzorniger Bär, reißender Wolf, blutrünstige Schergen.
Man hört den Hufschlag des archaischen,
Verirrten Reiters blinden Ritts,
An Ketten gelegte Geister vergangener Zeiten
Schrecken auf im verbliebenen Dickicht
Habicht-Hochzeit in dürrem Laub
Wir steigen hinauf, fliegen in den Herbst,
Kreischend, weinend, jagend,
Zwei hungrige Habichte der Liebe.
Des Sommers junge Räuber sind wir,
Es schmettern die kühnen Habichtflügel,
Wir fechten den Kampf der Küsse.
Wir fliegen aus dem Sommer, fliegen vertrieben,
Im Herbste irgendwo bleiben wir stehen,
Mit zerzausten Federn, verliebt.
Dies ist unsre letzte Hochzeit:
Wir beißen einander tief ins Fleisch hinein
Und fallen nieder ins dürre Laub.